Freunde,
Herzlichen Glückwunsch und herzlichen Dank, dass ihr hier seid, trotz
der Drohungen, trotz der gepanzerten Polizei vor dem Veranstaltungsort,
trotz des Aufgebots der deutschen Presse, trotz des deutschen Staates,
trotz des deutschen politischen Systems, das euch verteufelt, weil ihr
hier seid. “Warum ein palästinensischer Kongress, Herr Varoufakis?”, fragte mich
kürzlich ein deutscher Journalist. Weil, wie Hanan Asrawi einmal sagte:
“Wir können uns nicht darauf verlassen, dass die zum Schweigen
gebrachten Menschen uns von ihrem Leid berichten.”
Heute ist Asrawis Begründung deprimierenderweise noch stärker
geworden: Weil wir uns nicht darauf verlassen können, dass die zum
Schweigen gebrachten, die ebenfalls massakriert werden und hungern, uns
von den Massakern und dem Hungertod berichten.
Aber es gibt noch einen anderen Grund: weil anständige Menschen, die
Deutschen, dazu gebracht werden, einen gefährlichen Weg Richtung
herzloser Gesellschaft zu beschreiten, indem ein weiterer Völkermord im
Namen dieses Landes und in seiner Mitschuld verübt wird.
Ich bin weder Jude noch Palästinenser. Aber ich bin unglaublich
stolz, hier unter Juden und Palästinensern zu sein - meine Stimme für
Frieden und universelle Menschenrechte mit den jüdischen Stimmen für
Frieden und universelle Menschenrechte zu vereinen - zusammen mit den
palästinensischen Stimmen für Frieden und universelle Menschenrechte.
Dass wir heute hier zusammen sind, ist der Beweis dafür, dass Koexistenz
nicht nur möglich ist, sondern dass sie bereits stattfindet. Schon
jetzt.
“Warum kein jüdischer Kongress, Herr Varoufakis?”, fragte mich
derselbe deutsche Journalist, der sich wohl einbildete, schlau zu sein.
Ich begrüsste seine Frage.
Denn wenn auch nur eine einzige Jüdin oder ein einziger Jude bedroht
wird, nur weil sie oder er Jude ist, werde ich den Davidstern an meinem
Revers tragen und meine Solidarität anbieten – koste es, was es wolle. Um es noch deutlicher zu sagen: Wenn Juden irgendwo auf der Welt
angegriffen werden, wäre ich der Erste, der sich für einen jüdischen
Kongress einsetzen würde, um unsere Solidarität zu bekunden.
Ebenso, wenn Palästinenserinnen und Palästinenser massakriert werden,
weil sie Palästinenserinnen und Palästinenser sind – nach dem Dogma,
dass sie Hamas gewesen sein müssen, wenn sie jetzt tot sind – werde ich
meine Keffiyeh tragen und meine Solidarität bekunden, koste es, was es
wolle.
Die universellen Menschenrechte sind entweder universell oder sie bedeuten nichts.
In diesem Sinne habe ich die Frage des deutschen Journalisten mit ein paar eigenen Fragen beantwortet:
- Werden 2 Millionen israelische Juden, die vor 80 Jahren aus ihren
Häusern in ein Freiluftgefängnis geworfen wurden, immer noch in diesem
Freiluftgefängnis gehalten, ohne Zugang zur Aussenwelt, mit minimaler
Nahrung und Wasser, ohne Chance auf ein normales Leben, ohne
Möglichkeit, irgendwohin zu reisen, und seit 80 Jahren regelmässig
bombardiert? Nein. - Werden israelische Juden absichtlich von einer Besatzungsarmee
ausgehungert, während sich ihre Kinder auf dem Boden winden und vor
Hunger schreien? Nein. - Gibt es Tausende von jüdischen verletzten Kindern ohne überlebende
Eltern, die durch die Trümmer ihrer ehemaligen Häuser kriechen? Nein. - Werden israelische Juden heute von den modernsten Flugzeugen und Bomben der Welt bombardiert? Nein.
- Erleben die israelischen Juden einen totalen Ökozid an dem
bisschen Land, das sie noch ihr Eigen nennen können, keinen einzigen
Baum mehr, unter dem sie Schatten suchen oder dessen Früchte sie kosten
können? Nein. - Werden heute israelische jüdische Kinder auf Befehl eines UN-Mitgliedsstaates von Scharfschützen getötet? Nein.
- Werden israelische Juden heute von bewaffneten Banden aus ihren Häusern vertrieben? Nein.
- Kämpft Israel heute um seine Existenz? Nein.
Freunde,
Heute hätten wir gerne mit Menschen, die anders denken als wir, eine
anständige, demokratische und von gegenseitigem Respekt geprägte Debatte
darüber geführt, wie wir Frieden und universelle Menschenrechte für
alle Menschen, Juden und Palästinenser, Beduinen und Christen, vom
Jordan bis zum Mittelmeer erreichen können. Leider hat das gesamte deutsche politische System beschlossen, dies
nicht zuzulassen. In einer gemeinsamen Erklärung haben sich nicht nur
die CDU-CSU oder die FDP, sondern auch die SPD, die Grünen und
bemerkenswerterweise zwei Vorsitzende der Partei Die Linke
zusammengetan, um sicherzustellen, dass eine solche zivilisierte
Debatte, in der man durchaus unterschiedlicher Meinung sein kann, in
Deutschland niemals stattfinden wird.
Ich sage ihnen: Ihr wollt uns zum Schweigen bringen. Uns verbieten.
Uns dämonisieren. Uns anklagen. Deshalb lasst ihr uns keine andere Wahl,
als euren Anschuldigungen mit unseren Anschuldigungen zu begegnen. Ihr
habt euch das ausgesucht. Nicht wir.
- Ihr beschuldigt uns des antisemitischen Hasses
- Wir werfen euch vor, die besten Freunde der Antisemiten zu sein, indem ihr das Recht Israels, Kriegsverbrechen zu begehen, mit dem Verteidigungsrecht der israelischen Juden gleichsetzt.
- Ihr beschuldigt uns, den Terrorismus zu unterstützen
- Wir werfen euch vor, legitimen Widerstand gegen einen
Apartheidstaat mit Gräueltaten gegen Zivilisten gleichzusetzen.
Gräueltaten, die ich immer verurteilt habe und verurteilen werde, egal
wer sie begeht -Palästinenser, jüdische Siedler, meine eigene Familie,
wer auch immer. - Wir werfen euch vor, dass ihr die Pflicht der
Menschen in Gaza nicht
anerkennt, die Mauer des offenen Gefängnisses einzureissen, in dem sie
seit 80 Jahren eingeschlossen sind, und dass ihr diesen Akt des
Einreissens der Schandmauer – die genauso wenig zu verteidigen ist wie
die Berliner Mauer – mit Terrorakten gleichsetzt.
- Wir werfen euch vor, legitimen Widerstand gegen einen
- Ihr werft uns vor, den Terror der Hamas am 7. Oktober zu bagatellisieren
- Wir werfen euch vor, die 80 Jahre andauernde ethnische Säuberung
der Palästinenser durch Israel und die Errichtung eines gepanzerten
Apartheidsystems in Israel-Palästina zu verharmlosen. - Wir werfen
euch vor, zu verharmlosen, dass Netanjahu über Jahre die Hamas
unterstützte, um die Zweistaatenlösung, die ihr angeblich befürwortet,
zu zerstören. - Wir werfen euch vor, den beispiellosen Terror der
israelischen Armee gegen die Menschen in Gaza, im Westjordanland und im
Osten Jerusalems zu verharmlosen.
- Wir werfen euch vor, die 80 Jahre andauernde ethnische Säuberung
- Ihr werft uns, den Organisatoren des heutigen Kongresses, vor,
dass wir, ich zitiere, “nicht daran interessiert sind, vor dem
Hintergrund des Krieges in Gaza über Möglichkeiten des friedlichen
Zusammenlebens im Nahen Osten zu sprechen”. Ist das euer Ernst? Habt ihr
den Verstand verloren?- Wir beschuldigen euch, einen
deutschen Staat zu unterstützen, der nach den USA der grösste
Waffenlieferant der
Netanjahu-Regierung ist, die damit Palästinenserinnen und Palästinenser
massakrieren will, um eine Zweistaatenlösung und ein friedliches
Zusammenleben zwischen Juden und Palästinensern unmöglich zu machen. - Wir werfen euch vor, dass ihr nie die Frage beantwortet, die
jeder Deutsche beantworten muss: Wie viel palästinensisches Blut muss
noch fliessen, bevor euer - berechtigtes – Schuldgefühl für den Holocaust
weggewaschen ist?
- Wir beschuldigen euch, einen
palästinensischen Kongress, weil wir, im Gegensatz zum deutschen
politischen System und den deutschen Medien, Völkermord und
Kriegsverbrechen verurteilen unabhängig davon, wer sie verübt. Weil wir
die Apartheid im Land Israel-Palästina ablehnen, egal wer die Oberhand
hat – genauso wie wir die Apartheid in den amerikanischen Südstaaten
oder in Südafrika abgelehnt haben. Weil wir für universelle
Menschenrechte, Freiheit und Gleichheit unter Juden, Palästinensern,
Beduinen und Christen im alten Land Palästina eintreten.
Und damit wir uns noch klarer über die berechtigten und bösartigen Fragen sind, die wir immer bereit sein müssen zu beantworten:
Verurteile ich die Gräueltaten der Hamas?
Ich verurteile jede einzelne Gräueltat, unabhängig davon, wer der
Täter oder das Opfer ist. Was ich nicht verurteile, ist bewaffneter
Widerstand gegen ein Apartheidsystem, das als Teil eines langsam
brennenden, aber unaufhaltsamen Programms der ethnischen Säuberung
konzipiert wurde. Anders ausgedrückt: Ich verurteile jeden Angriff auf
Zivilisten, während ich gleichzeitig jeden feiere, der sein Leben
riskiert, UM DIE MAUER EINZUREIssEN.
Befindet sich Israel nicht in einem Krieg um seine Existenz?
Nein, ist es nicht. Israel ist ein nuklear bewaffneter Staat mit der
vielleicht fortschrittlichsten Armee der Welt und dem ganzen Arsenal der
US-Militärmaschine im Rücken. Es gibt keine Symmetrie mit der Hamas,
einer Gruppe, die Israelis ernsthaften Schaden zufügen kann, die aber in
keiner Weise in der Lage ist, Israels Militär zu besiegen oder Israel
daran zu hindern, den langsamen Völkermord an den Palästinensern im
Rahmen des Apartheidsystems, das mit langjähriger Unterstützung der USA
und der EU errichtet wurde, fortzusetzen.
Haben die Israelis nicht zu Recht Angst, dass die Hamas sie ausrotten will?
Natürlich haben sie das! Juden haben einen Holocaust erlitten, dem
Pogrome und ein tief verwurzelter Antisemitismus vorausgingen, der
Europa und Amerika seit Jahrhunderten durchdringt. Es ist nur natürlich,
dass Israelis in Angst vor einem neuen Pogrom leben, wenn die
israelische Armee einknickt. Indem der israelische Staat seinen Nachbarn
die Apartheid aufzwingt und sie wie Untermenschen behandelt, schürt er
das Feuer des Antisemitismus, stärkt Fanatiker unter den Palästinensern
und Israelis, die sich nur gegenseitig vernichten wollen, und trägt
letztlich zu der schrecklichen Unsicherheit bei, die Juden in Israel und
der Diaspora verzehrt. Die Apartheid gegen die Palästinenser ist eine
äusserst schlechte Idee, wenn es um die Selbstverteidigung Israels geht.
Was ist mit Antisemitismus?
Der Antisemitismus ist immer eine klare und gegenwärtige Gefahr. Und
er muss ausgerottet werden, vor allem in den Reihen der Globalen Linken
und der Palästinenserinnen und Palästinenser, die für palästinensische
Bürgerrechte kämpfen – überall auf der Welt.
Warum verfolgen die Palästinenser ihre Ziele nicht mit friedlichen Mitteln?
Das taten sie. Die PLO erkannte Israel an und verzichtete auf den
bewaffneten Kampf. Und was haben sie dafür bekommen? Absolute
Erniedrigung und systematische ethnische Säuberung. Das hat die Hamas
hervorgebracht und sie in den Augen vieler Palästinenserinnen und
Palästinenser als einzige Alternative zu einem langsamen Völkermord
unter Israels Apartheid erscheinen lassen.
Was sollte jetzt getan werden? Was könnte Frieden in Israel-Palästina bringen?
- Ein sofortiger Waffenstillstand. - Die Freilassung aller Geiseln:
die der Hamas und die Tausende, die von Israel festgehalten werden. - Ein Friedensprozess unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen, der
durch die Verpflichtung der internationalen Gemeinschaft unterstützt
wird, die Apartheid zu beenden und gleiche Bürgerrechte für alle zu gewährleisten. - Bei
der Frage, was an die Stelle der Apartheid treten soll, müssen Israelis
und Palästinenser zwischen der Zwei-Staaten-Lösung und der Lösung eines
einzigen föderalen, säkularen Staates entscheiden.
Wir sind hier, weil es faul ist, Rache zu nehmen statt zu trauern.
Wir sind hier, um nicht für Rache, sondern für Frieden und Koexistenz in Israel und Palästina zu werben.
Wir sind hier, um den deutschen Demokratinnen und Demokraten,
einschliesslich unseren ehemaligen Genossinnen und Genossen von der
LINKEN, zu sagen, dass sie sich lange genug mit Schande bedeckt haben
–dass Unrecht plus Unrecht kein Recht ergeben – und dass es nicht zur
deutschen Vergangenheitsbewältigung beiträgt, wenn wir zulassen, dass
Israel mit Kriegsverbrechen davonkommt.
Über den heutigen Kongress hinaus haben wir in Deutschland die
Pflicht, den Diskurs zu verändern. Wir haben die Pflicht, die grosse
Mehrheit der anständigen Deutschen davon zu überzeugen, dass die
universellen Menschenrechte das Wichtigste sind. Dass “Nie wieder”
wirklich “Nie wieder” bedeutet. Für niemanden, egal ob Jude,
Palästinenser, Ukrainer, Russe, Jemenit, Sudanese, Ruander –für alle,
überall.
In diesem Zusammenhang freue ich mich, ankündigen zu können, dass die
deutsche politische Partei MERA25 von DiEM25 bei den Wahlen zum
Europäischen Parlament im kommenden Juni auf dem Stimmzettel stehen wird
– um die Stimme der deutschen Humanisten zu bekommen, die sich nach
jemandem im Europäischen Parlament sehnen, der/die Deutschland vertritt
und die Komplizenschaft der EU beim Völkermord anprangert – eine
Komplizenschaft, die Europas grösstes Geschenk an die Antisemiten in
Europa und darüber hinaus ist.
Ich grüsse euch alle und schlage vor, dass wir nie vergessen, dass
niemand von uns frei ist, solange auch nur eine*r von uns in Ketten
liegt.



